Sensibler und differenzierter: Cornelia Honekamp (links) und Sophie Hambrügge haben mit ihrem Team den Blick auf die Medikation der Bewohnenden weiterentwickelt. Foto: Michael Bönte / Caritasverband für das Bistum Münster
Rosendahl-Holtwick. Der Bewohner im Caritas Altenpflegeheim der Stiftung zu den Heiligen Fabian und Sebastian in Rosendahl hatte große Schmerzen. Seine Haut am gesamten Körper war massiv geschädigt. Die Versorgung der Wunden aufwändig. Er litt, bekam starke Schmerzmittel und auch Psychopharmaka, weil er aufgrund seiner Lebenssituation depressiv wurde. Stationäre Behandlungen in der Hautklinik waren unumgänglich. Diese halfen: Das Hautbild verbesserte sich, Schmerzmittel konnten abgesetzt werden. Allerdings kamen die Beschwerden schnell wieder, wenn er zurück in die Einrichtung kam.
"Wir sind nachdenklich geworden", sagt Cornelia Honekamp. "Woran konnten diese Rückfälle liegen?" Gemeinsam mit den Pflegenden schauten sie noch einmal genau auf die Medikation im Krankenhaus und im Pflegeheim. "Die Medikamentenbeauftragte entdeckte, dass das Antidepressivum in der Klinik immer abgesetzt wurde", erklärt die Pflegedienstleiterin. "Der behandelnde Arzt hier hat es dagegen wieder verordnet." Ein Blick in die Liste der Nebenwirkungen gab Aufschluss: Hautprobleme waren dort aufgeführt. "Als der Arzt nach Rücksprache mit uns das Medikament absetzte, heilte die Haut - der Allgemeinzustand des Bewohners wurde so gut, dass er schließlich kein Antidepressivum mehr brauchte."
Natalie Albert (links) hat gemeinsam mit dem Pflegeteam um Sophie Hambrügge das Projekt "pillenlos statt willenlos" im Caritas Altenpflegeheim der Stiftung zu den Heiligen Fabian und Sebastian in Rosendahl angestoßen.Foto: Michael Bönte / Caritasverband für das Bistum
Ein Beispiel von vielen, das zeigt, wie wichtig der genaue Blick auf die oft lange Liste der Medikamente der Bewohner in Pflegeheimen ist. "Wir sind auch früher schon sehr sensibel bei dem Verabreichen von Psychopharmaka gewesen", sagt Sophie Hambrügge. Die Beauftragte für das Qualitätsmanagement im Rosendahler Pflegeheim weiß aber, dass bei langfristig vom Arzt verschriebenen Regelgaben kurzfristiges Reagieren auf mögliche Verhaltensweisen und Symptome oft schwierig ist. "Bei der Bedarfsmedikation gelingt das schon eher - jedoch nur, wenn man die Situation des Bewohnenden genau beobachtet und beschreibt."
Dieses genaue Hinsehen und Differenzieren ist das Ziel des Projekts "pillenlos statt willenlos" (piwi), das der Diözesancaritasverband Münster im vergangenen Jahr initiierte. Was in vielen Altenpflegeeinrichtungen von den Mitarbeitenden oft in der Alltagssituation aus fachlicher Intuition heraus entschieden werden musste, sollte einen festen Rahmen bekommen. Und einen Handlungsleitfaden, mit dem alle Beteiligten exakter entscheiden können, welche Maßnahmen angezeigt sind und welche eben nicht.
"Wir wollen dabei das große, multiprofessionelle Team mitnehmen, das zur Klärung der Situation beitragen kann", sagt Natalie Albert. "Pflegende, Sozialarbeiter, Ärzte, Apotheker, Angehörige…", zählt die Referentin für stationäre Pflege des Verbandes dazu. Denn warum ein Bewohnender bestimmte Symptome zeige, die möglicherweise die Gabe etwa von beruhigenden Mitteln erforderlich machten, sei oft erst aus verschiedenen Blickwinkeln zu beurteilen.
Sowohl bei der Bedarfs- wie bei der Regelmedikation ist etwa der Blick auf mögliche Wechselwirkungen wichtig, sagt Cornelia Honekamp. "Wir haben Bewohnende, die 15 Tabletten und mehr am Tag nehmen." Es müssen aber nicht immer die Medikamente oder Grunderkrankungen sein, die zum auffälligen Verhalten führen. Auch hormonelle Schwankungen, Nährstoffversorgung oder Blutwerte können ursächlich sein. "Manchmal werden ganz andere Gründe erst in der Reflexion verschiedener Beteiligter deutlich."
Als Beispiel berichtet sie von einer Frau mit Demenz, die zunehmend unruhig wurde. Vor der Gabe von weiteren sedierenden Medikamenten erkannte das Pflege-Team, dass sie von Licht und Lautstärke auf der Station überreizt war. "Mit Hilfe einer Sonnenbrille und Kopfhörern ist sie jetzt zufriedener und entspannter geworden."
Die Herausforderungen in diesen Bereich werden steigen, sagt Sophie Hambrügge. "Durch die höhere Lebenserwartung gibt es immer mehr Bewohnende mit Demenz, die ihre Bedürfnisse nicht mehr kommunizieren können." Besondere Verhaltensweisen, Rückzug oder Depressionen seien häufige Begleiter. "Vom gesamten Team ist dann eine gute Beobachtung notwendig, um weitere Schritte abzuwägen." Auch die persönliche Einstellung zur Gabe von Medikamenten könnte sich dadurch bei den Beteiligten ändern.
Am Pilotprojekt von piwi nehmen neben dem Altenpflegeheim in Rosendahl das Altenwohnhaus St. Sixtus in Haltern am See und das Altenzentrum St. Josef in Sassenberg teil. Es hat eine erhöhte Sensibilität für das Thema und Strategien gebracht, den Herausforderungen von Psychopharmaka-Medikationen zu begegnen. Dabei geht es auch um eine Standardisierung, die eine Auseinandersetzung im oft stressigen Pflegealltag verankert. Regelmäßige Fallgespräche des multiprofessionellen Teams gehören dazu. Die Ausbildung von Medikamenten-Beauftragten unter den Pflegenden. Oder eine Medikations-Analyse durch Apotheker. All das mit letztlich einem zentralen Ziel, wie es Natalie Albert formuliert. "Den Bewohnenden eine hohe Lebensqualität, Teilhabe am sozialen Leben und größtmögliche Selbstbestimmtheit zu ermöglichen."
039-2025 (Text: Michael Bönte) 30. September 2025